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Kapitel 7: Neubeginn 1945-1960
Theodor Berthoud: Verlagplanung nach dem Kriege, Gütersloh, 5.1.1944. Bertelsmann-Archiv: I.2/1001
Erste Verlagsplanungen für die Zeit nach dem Krieg setzten bei Bertelsmann mitten im Krieg ein. Theodor Berthoud← erstellte Anfang 1944 eine Expertise dazu, wie sich das hauseigene Buchprogramm in der Nachkriegszeit noch verkaufen sollte. Daß der Bedarf an Kriegsbüchern nach dem Krieg vorerst einmal gedeckt wäre, davon war auszugehen. Ein oder zwei Titel würden sich wohl noch verkaufen lassen — ob der Krieg in dieser Erwägung von Deutschland veroren ging oder gewonnen wurde, spielte eine geringe Rolle. Im einen wie im anderen Fall würde man vom Krieg erst einmal genug haben. Autoren aus der zweiten und dritten Reihe, wie sie Berthoud betreute — für die großen Namen war Dessin← zuständig — würden sich begrenzt in weitere Auflagen bringen lassen, man benötigte bei diesen Autoren fortwährend Nachschub. Neu war das Klassikergeschäft, in das sich das Unternehmen mit seinen kleineren Feldpostreihen begeben hatte: Storm und Keller wurden von den Soldaten gelesen und man konnte vermuten, daß hier noch einmal ein besonderer Nachrkriegsmarkt zustandekäme. Die Suche nach Orientierung und bleibenden Werten würde sich absehbar in die Nachkriegszeit verlängern — eine der Planungen, die tatsächlich in den ersten Nachkriegsjahren Entfaltung fanden. Auch Heinrich Mohn war noch im Dritten Reich mit dem Nachkriegsgeschäft befaßt. Mit Ausgaben der Werke Hans Grimms hatte man sich lange Zeit zurückgehalten, um sich nicht noch stärker mit Langen-Müller und damit dem NSDAP-Konsortium anzulegen, doch diese Rücksichtnahme mußte irgendwann aufhören. Als Mitte 1944 die Englische Rede konfisziert wurde, bestärkte Mohn den beunruhigten Grimm, wegen der Restexemplare, die in erheblichem Umfang konfisziert worden waren und nun im Rathaus in Gütersloh lagen, bei der Gestapo und dem Propagandaministerium vorstellig zu werden. Es mußte den Verantwortlichen des Dritten Reichs einleuchten, daß die Rede zu jenen Dokumenten gehörte, die Deutschlands Friedenswillen vor 1939 belegten. Man wußte nicht, wie der Krieg endete, doch in Kriegsschuldverhandlungen — Mohn dachte soweit ersichtlich am ehesten an ein zweites Versailles — würde Deutschland gut beraten sein, auf Titel wie die Englische Rede zu verweisen. Es gab, das belegte ihre Publikation 1938 ernsthafte Bemühungen in Deutschland, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern und England zum Stillhalten zu bewegen. England schlug, so hatten Mohn, Dessin und Grimm es seit 1939 gesehen, die Offerten aus und riskierte mutwillig die Eskalation, die 1939 auf den Angriff auf Polen folgte.
Alarmiert hatte Mohn noch Ende 1944 auf Grimms Euphorie darüber reagiert, daß die Organisaton Todt eine halbe Millionen Exemplare seines Volks ohne Raum an ihre Mitglieder verschenken wollte. Grimm verdarb sich das gesamte Nachkriegsgeschäft mit einer solchen Ausgabe. Der von sich selbst überzeugte Autor rechnete ganz offensichtlich nicht damit, daß die beschenkten Arbeiter der Rüstungsmaschinerie das Buch als erstes verkaufen und damit den Markt sättigen würden.
1944 schien es noch zu erwarten, daß der Zweite Weltkrieg als Eherenhandel zwischen europäischen Nationen beendet würde — mit einer Erniedrigung der deutschen Nation, mit Anschuldigungen, sie habe den Krieg vom Zaun gebrochen, mit Verhandlungen, in denen man von deutscher Seite aus versuchen würde, die Gründe zu verteidigen, die seit 1938 für den Krieg sprachen — hier sah man im Gütersloher Unternehmen die Welt noch immer wie man sie spätestens nach der "Machtergreifung" gesehen hatte, mit einem Gefühl für eine Gerechtigkeit, die der Rest der Welt nur nicht verstehen wollte.
Noch die Verhandlungen die Reinhard Mohn, nach der Rückkehr aus amerikanischer Gefangenschaft 1947 mit den englischen Behörden um die Zulassung des Hauses als Zeitschriftenverlag führte, blieben von den Perspektiven Hans Grimms, Gustav Dessins wie des Vaters bestimmt. Der Verantwortliche auf Seiten der Engländer hatte Grimms Rede auf seinem Schreibtisch vor sich liegen und fragte den jungen Verlegerssohn, was er denn von diesem Buch halte. Dieser hatte schon genug damit zu tun gehabt, die Kriegsbücher des Unterehmens als geringfügigen Teil des verlegerischen Programms auszuweisen. Die Englische Rede mochte dagegen noch wohlerwogen gewesen sein. Vieles, was Grimm gesagt hatte, mochte jetzt, so antwortete Reinhard Mohn nach eigenerer Aufzeichnung vom Tage, von der Geschichte überholt sein. Manches jedoch sei darin seines Erachtens mit großer Berechtigung gesagt. Der Engländer schien die Antwort erwartet zu haben und entgegenete, er habe die ganze Rede gelesen und könne ihr in keinem eizigen Punkt zustimmen. Sie zeuge am ehesten von dem ganzen Mißverstännis, dem sich die deutsche Nation gegenüber der englischen hingegeben habe und noch immer hingebe. Problematischer sei indes wohl, daß die Entnazifizierungsbögen der Schwester wie des Vaters unvollständig seien. Reinhard Mohn verließ den Engländer, so sein eigenes Memorandum der Verhandlung, ohne weitere Entgegnung. Im Unternehmen wurden in der folgenden Woche die Konsequenzen aus dem Vorfall gezogen: Reinhard Mohns Schwester, Ursula, die ihre NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen hatte, mußte den familiären Teilhaberkreis verlassen, Heinrich Mohn, der als fördendes Mitglied die SS. unterstützt hatte, trat mit dem 19.4.1947 ab, wenige Tage nach dem schlecht verlaufenen Gespräch. In einer letzten Amtshandlung schrieb er noch an Hans Grimm einen Brief von eigener Revanche — Grimm habe Zweifel gegenüber dem neuen Lektor darüber geäußert, daß Bettelsmann noch sein Verlag sei, und nachgefragt, ob die ursprünglichen vertraglichen Bedingungen noch gälten, was alles ihn, Heinrich Mohn, doch erstaune, gehe er doch seit Ende 1944 bereits davon aus, daß der Vertrag gekündigt sei. Grimm habe ihn, so Heinrich Mohn, immer nur als Kaufmann behandelt, nie als Verleger und sich doch seinerzeit schon darum von ihm getrennt, darüber gab es doch längst lange Briefe.
Es gab diese Briefe wirklich, genauso wie die Schreiben, die Grimm an Erckmann geschrieben hatte, mit Unwohlsein darüber, daß er jetzt, im Oktober 1944 bei einem geschlossenen Verlag sei, der zudem in eine dubiose Gerichtssache verwickelt war.← Es gab gleichzeitig einen langen Briefwechsel seitdem, in dem Heinrich Mohn und Gustav Dessin gemeinsam Grimm umworben hatten, um alles in der Welt bei Bertelsmann zu bleiben. Vorsichtig hatte man Grimm geraten, bei den alliierten Behörden nicht zu rasch wegen der Englischen Rede vorstellig zu werden. Grimm wollte die Rede direkt nach Kriegsende wieder in den Auslagen sehen. Genutzt hatte man Grimm schließlich, um auch über ihn mit den alten Autoren in Kontakt zu kommen, die bei Langen-Müller in München waren, und nun ohne Verlag dastanden. Grimm fiel aus allen Wolken, da er nun lesen mußte, daß man doch schon im Sommer 1944 auseinander gegangen war.
Der Neubeginn nach 1945 vollzog sich bei Bertelsmann schleppend. Schon die Ausbesserung der Kriegsschäden wurde zum unvorstellbaren Problem. Man mußte Arbeitskräfte beschaffen, Materialien genehmigt erhalten — all dies als Unternehmen ohne Zulassung: Die Behörden hatten gewechselt, doch das Leben des Verlegers hatte sich damit erst einmal gar nicht geändert.
Der Sommer verstrich mit Warten und kleinen Reperaturen. Aus dem Krieg kehrten die ersten männlichen Arbeitskräfte heim; man entließ die ersten weiblichen Kräfte unter Hinweis auf die damit nötig werdende Umschichtung. Im September waren die Entnazifizierungsbögen einzureichen. Die leitenden Mitarbeiter taten dies in einer Aktion, die man mit Gustav Möhle, dem Rechtsberater und Wirtschaftsprüfer des Hauses abstimmte. Dieser selbst gab den Bögen, mit denen sich das Haus um die Wiederzulassung bewarb, eine firmengeschichtliche Expertise← bei, zu der er sich, nachdem er das Unternehmen seit 1938 betreute und das gesamte Verlagsprogramm seit dem Jahrhundertbeginn überschauen konnte, besonders berufen sah: Bertelsmann war, so der zweisprachig eingereichte Text, ein theologisches Verlagshaus, das während des Dritten Reichs in besonderer Nähe zur Bekennenden Kirche gearbeitet hatte und darum den Behörden von Anbeginn an ein Dorn im Auge gewesen sei. 1934 setzten die ersten Repressalien ein. 1939 versuchte man Bertelsmann unter das Etikett "theologischer" Verlag zu zwingen und damit von allen öffentlichen Aufträgen auszuschließen (Möhle unterschlug, daß die Regelung als generelle erging und sich als folgenlose bewährte). Im Krieg habe sich das Unternehmen mit Kriegsbüchern profiliert, die von "Paizifisten" wie Ettighoffer geschrieben wurden. 1941 hätten endlich Goebbels und Himmler erfolgreich Fritz Otto Buschs Narvik-Buch verboten, um zu verhindern, daß die SS. dergleichen las. Erst 1944 hätten die Behörden jedoch mit dem Vorwurf, Bertelsmann sei in Papierschiebungen verwickelt, den Vorwand gefunden, den sie benötigten, um das Unternehmen zu schließen. Die führenden Mitarbeiter seien verhaftet worden. Möhle selbst, der das Unternehmen als Treuhänder leitete, sei kurzfristig in Haft gekommen, doch hatten sich die Kämpfe gelohnt: Bertelsmann habe christliches Gedankengut unter dem Nationalsozialismus in Umlauf gebracht und da gerade in der Diktatur nach solchem die größte Nachfrage bestand, damit nebenbei ungemeine geschäftliche Erfolge erzielt.
Die alliierten Behörden drangen auf andere Klärungen. Jene führenden Mitarbeiter, die 1941 und 1942 der NSDAP beigetreten waren, mußten ihre Positionen verlassen. Sie alle reichten am 27.2.1946 ihre Demissionen ein, ein jeder aus einem eigenen Grund — enttäuschend war der erzwungene Rücktritt vor allem für Gustav Dessin, für den bei Bertelsmann keine zweite Reihe blieb, in die er zurücktreten konnte. Berthoud und Steinsiek blieben im Umfeld des Hauses. Mit Steinsiek gründete Heinrich Mohn gemeinsam eine unahängige Unternehmenseinheit, in die der technische Betrieb ausgelagert wurde. Am 27.3.1946 traf die Verlagslizenz ein, schon zuvor hatte sich Bertelsmann dank der Materialvorräte und der ungewöhnlichen Ausstattung mit Produktionsanlagen beim Druck von ersten Schulbüchern angeboten.
27.3.1946: Die Lizenz der britischen Behörden für den Buchverlag C. Bertelsmann
Gustav Dessins Lücke füllte als neuer Lektor Wolfgang Strauß, der das Unternehmen in die Lesering-Zeit begleiten sollte. Seine ersten Programm-Entscheidungen ragten an keiner Stelle über diejenigen Dessins heraus. Das Unternehmen suchte keinen Kontakt zu jungen Autoren, die den intellektuellen Neubeginn erwägen konnten. Strauß suchte im Gegenteil den Kontakt zur älteren Garde aus dem untergegangenen Reich, zu den Autoren, die jetzt ohne Verlage dastanden — Bertelsmann war wieder offen und konnte sie aufnehmen, jedenfalls jene, die man in Gütersloh haben wollte. Strauß und Mohn drangen darauf, nicht komplette Verlagsprogramme zu übernehmen, sondern die Autoren, die sich mutmaßlich verkaufen würden.
Wie mit den Autoren so verfuhr man mit den Restbeständen. Alte Feldausgaben wurden aufgebunden, in Pappeinbände gesteckt und in den Handel gebracht — auf den Innenseiten las man nach wie vor das Wort "Feldausgabe", das diese Bücher für die Front bestimmt hatte. In der Werbung begab man sich behutsam auf neue Wege, der neuentdeckten christlich humanistischen Tradition verpflichtet. Erfolg hatte man mit dem Neuanfang nicht. Im Hause Bertelsmann fehlte ein Konzept für die neue Zeit und jedes Gespür für den Wachstumsmarkt, in den es einzusteigen galt.
In das Fiasko der unternehmensinternen Stagnation stürzte Bertelsmann 1947 beim Versuch, zur Buchlizenz auch noch die Zeitschriftenlizenz zu erringen. Mit Kurt Stavenhagens Projekt der Deutschen Hefte, zu denen der Verlag einen editorischen Eröffnungsbeitrag des Autors ins Rennen schickte, in dem es um die Verantwortung ging, die kaum jemand in Deutschland für das riskierte, was er selbst getan hatte, sah man sich ideologisch auf der rechten Seite. Stavenhagen plädierte für einen neue christlich humanistische Besinnung, zu der gerade die Verantwortung gehörte, ohne genauer auf Konsequenzen zu sprechen zu kommen.
Heinrich Mohn und der aktuelle Führungsstab sowie Stavenhagen reichten Personalfragebögen ein in der Hoffnung, alles liefe im Fall der Zeitschriftenlizenz wie zuvor im Fall der Buchlizenz. Spät erst begriff man bei Bertelsmann, daß im neuen Projekt durchaus nichts so lief, wie im soeben glücklich absolverten, da man sich eines dubiosen Fürsprechers versichert hatte: Der Leiter der Druckerei Thomas in Kempen hatte frühzeitig eine Position im Zeitschriftenverleger-Verband der englischen Zone erlangt. Bertelsmann hatte in Engels' Unternehmen Hefte der Serie Spannende Geschichten, auch einen Ettghoffer und eine kleine Eichendorfausgabe für die Front drucken lassen. Engels kannte die Produktion des Hauses mithin und bot sich Bertelsmann gerade im Blick auf die heikle Produktion als Fürsprecher vor den Alliierten an — eine gefährliche Kombination, da Engels tatsächlich den englischen Beauftragten gezielt mit Büchern des Verlags versorgte und den Alliierten etwas ganz anderes nahelegte: den Verlag zuzulassen, jedoch ihn selbst sicherheitshalber als zweiten Lizenznehmer neben Mohn einzusetzen.
Die Gütersloher reichten ihre Anträge ein, die Engländer fragten nach der Buchproduktion des Hauses — sie hätten bei einer Bibliotheksrecherche herausgefunden, daß Bertelsmann auch Kriegsbücher verlegte. Mit Akribie erstellte man bei Bertelsmann auf den Anwurf hin eine Liste des gesamten Programms von 1933 bis 1945, in der die Kriegsbücher, die 1938 annähernd 75% der Produktion ausgemacht hatten, innerhalb einer puren Titelzählung untergingen — mehr als aufgewogen wurden von all den theologischen Titeln, die in Kleinstauflagen so lange den scheiternden wissenschaftlichen Verlag ausgemacht hatten. Von Grimm habe man sich, dies auf die konkretere Nachfrage, 1944 getrennt. Man habe durchaus als Verlag von Feldpostsschrifttum eine bedeutendere Position erlangt — gerade hier jedoch primär eine weltanschaulich unsprektakuläre, schöngeistige Ware ausgeliefert.
Die Engländer akzeptierten die Liste, sahen sich jedoch bei den Personenangaben nicht korrekt informiert — man werde bei Bertelsmann schon wissen, wo man fehlte. Es sieht nicht so aus, als ob die Engländer an dieser Stelle an die fördernde SS-Mitgliedschaft des Unternehemnschef dachten, sie scheinen lediglich über die NSADAP-Mitgliedschaft von Ursula Mohn, jetziger Fischer informiert gewesen zu sein. Weitere Risiken wollte man bei Bertelsmann nach dem Desaster, das all dies bedeutete jedoch nicht mehr eingehen: Die Bögen Heinrich Mohns und seiner Tochter wurden korrigiert. Der Firmenchef trat aus Altersgründen zurück und nahm Hans Grimm mit sich ins Abseits. Reinhard Mohn fuhr mit den neuen Bögen nach Düsseldorf, wo die deutsche Vorzimmerdame, die ihm in jeder Richtung half, ihm offenbarte, daß man jeden Bogen noch stillschweigend austauschen konnte — ihr Chef war nicht da und hatte sich die Materialien noch gar nicht durchgesehen. Das Revirement innerhalb der Firma war jedoch längst absolviert. Der junge Firmeninhaber gab die neuen Unterlagen ab und sprach sicherheitshalber einige Tage später noch einmal beim Leiter der Dienststelle, Felix vor, der ihm davon abriet, gemeinsam mit Engels oder auch nur mit Wixforth die Lizenz zu beantragen. Engels, der vermeintliche Fürsprecher, hatte, wie Felix nun gestand, tatäschlich gegen das Unternehmen gesprochen. Daß Fritz Wixforth als Lizenznehmer mit an Bord kam, schien den Alliierten unnötig — ihnen war ein einzelner Ansprechpartner durchaus lieber als mehrere. Unter Reinhard Mohn hatte sich das Unternehmen soeben flexibel und kooperativ erwiesen. Bertelsmann war wenig später im vollen Umfang lizenziert. Fritz Wixforth avancierte in der neuen Firma zum Mentor des jungen Chefs. Wenig später war er es, der in der Firma die interessantesten Versuche machte, aus der Stagnation herauszukommen, in der sie mit einem rückwärtsgewandten Verlagsprogramm, schlecht zusammengesammelten Autoren und einer unsicheren Führung stand.
Das Deutschland der ersten Nachkriegsjahre war intellektuell letztlich ausgehungert. Autoren aus Amerika, wie sie in den vergangenen Jahren nicht zu verlegen waren, die Literatur der Welt, seit dem Kaiserreich fortwährend in neuen Wellen diskreditiert, Klassiker, eben noch mißbraucht, all dies ließ sich theoretisch verkaufen, vorausgesetzt man fand zudem auch noch die Distributionswege. Die großen Buchhandlungen der Städte waren von den Kriegszerstörungen betroffen, auf dem Land hatte sich nie eine stabile Infragstruktur herausgebildet. Bertelsmann sah keineswegs allein, daß dies die Stunde des Bucherversands war, des Verlags, der seine Kunden brieflich ansprach und per Post, wo auch immer sie lebten, belieferte — anonym, was ihnen den zusätzlichen Vorteil gewährte, die eigene Umorientierung fern aller Debatten durchführen zu können.
Die Geschäftsmodelle differierten: Manche Buchgemeinschaften versorgten die Leser mit einem Überblick über die zwölf Romane, die sie im nächsten Jahr zugesandt erhielten — die Kunden kauften hier beinahe die Katze im Sack; begehrten sie mehr als zwölf Titel so gab ein zusätzliches Blatt ihnen noch eine kleinen Auswahl an Sonderbänden zu attraktiven Konditionen (Matthias Lackas← machte 1950 eine Buchgemeinschaft unter dem Titel "Bücher für alle" mit diesem Geschäftsmodell auf). Gegenüber einem solchen einfachen Modell entwickelte sich das von Bertelsmann angebotene mit einem Katalog und quartalsweiser Ansprache der Mitglieder, mit freier Auswahl und mit Bänden, die der Kunde, traf er keine Auswahl, zugesandt erhielt und endlich mit allerlei Prämien und Vergünstigungen überaus profitabel.
Bertelsmann machte geringe Anstalten, ein eigenes Autorenprogramm im Lesering aufzubauen. Der Kauf von Lizenzen auf dem internationalen Markt erwies sich als das interessanteste Geschäft insbesondere, da das Publikum hier eine gesteigerte Nachfrage zeigte. Wichtiger noch als das Angebot wurde der Vertriebsaufbau, der unter Fritz Wixforth geschah. Auf unterster Ebene zogen Werber durchs Land — in Drückerkolonnen bemüht, Mitglieder zu machen. Eine Ebene darüber wurde ein System der Mitgliederbetreuung aufgebaut, in dem fähige Buchhändler eine Pacht bezogen aus den Kunden, die sie dem Unternehmen zuführten — das System erwies sich als fruchtbar gegenüber dem stationären Buchhandel, der sich bei der Bertelsmann-Kundenwerbung ein Zubrot verdienen konnte, es erwies sich darüber hinaus als glänzender Anreiz gegenüber allen Gründern vergleichbarer Unternehmungen im Konzentrationsprozeß, der Mitte der fünfziger Jahhre in vollem Gange war, ihre Unternehmen Bertelsmann einzuverleiben. Matthias Lackas, der sich 1942 und 1943 in dubiose Geschäftsbeziehungen zu Bertelsmann begeben hatte, und der das Dritte Reich trotz Todesurteils überstanden hatte, führte Mitte der fünfziger Jahre seine 80.000 Buchgemeinschaftsmitglieder in den Bertelsmann-Lesering. Der am 1. Juni 1950 gegründet Bertelsmann Lesering zählte zu diesem Zeitpunkt, 1954, eine Million Mitglieder, 1957 sollte es zwei Millionen sein, 1960 drei — ein Heer fester Buchkunden.
Es lag nahe, die Vetriebsstruktur vielfältiger zu nutzen als dies im Buchvertrieb geschah. Im Moment, in dem sich die Republik die ersten komfortableren Radios und Schalplattenspieler leistete, kam zum Lesering der Schallplattenring. Bertelsmann stieg wenig später mit breiter Produktpalette und mit den internationalen Geschäftsbeziehungen, die man im Lizenzgeschäft soeben gewonnen hatte, in das Geschäft des Medienkonzerns ein, der Unternehmen im In- und Ausland kaufte, um die Masse zu gewinnen, in der sich alle Erwebungen im großen Stil mehrfach vermarkten ließen.
Daß das Unternehmen auf ein protestantisch-theologisches Verlagshaus zurückging, daß es im Zweiten Weltkrieg geschlossen wurde, daß seine führenden Mitarbeiter während dieser Zeit in Haft saßen und daß es unter den ersten Unternehmen war, die in Anerkennung dieser Vergangenheit von den alliierten Behörden wieder zugelassen wurden, sollte bis in die späten 1990er ein firmenhistorisches Kapital bleiben, mit dem sich in der Bundesrepublik wie im Ausland blendend auftreten ließ. Anders als andere Unternehmen reagierte das Gütersloher flexibel, als eine andere Vergangenheit 1998 in die öffentliche Debatte geriet. Bertelsmann ist heute vermutlich der im Blick auf die dreißiger und vierziger Jahre bestuntersuchte Verlag der Bundesrepublik Deutschland — ein Verdienst nicht zuletzt der Unternehmensführung, die bei den ersten kritischeren Fragen an die Vergangenheit den Schritt nach vorne wagte — den Schritt aus den Reihen jener, die als "Widerstandsverlage" firmierten, zu jenen deutschen Unternehmen, die sich entschlossen, ihrer eigenen Vergangenheit ins Gesicht zu sehen.
Die im Vorangegangenen zitierten Matrialien liegen heute neben dem gesicherten archivalischen Bestand des Hauses aus den Jahren bis 1950 im öffentlich geführten Firmenarchiv vor. Kontakt über
http://www.bertelsmann.de/bag/history/history_archiv/historyarchive.cfm←
Die vorangegangene Darstellung griff ausgiebig auf die Vorarbeiten zum und auf Materialien aus dem Bericht der Historikerkommission zurück, der im Oktober 2002 unter dem Titel Bertelsmann im Dritten Reich, herausgegeben von Saul Friedländer, Norbert Frei, Reinhard Wittmann, Trutz Rendtorff in den Handel kam.