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Gnadengesuch Helene Gerritzen, geb. Lackas, für ihren zum Tode verurteilten Bruder, Matthias Lackas, 20.5.1944

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Dokument: RH 69 1e p.154-159. Handschriftliches Gnadengesuch Helene Gerritzen, geb. Lackas, für ihren zum Tode verurteilten Bruder, Matthias Lackas.

Dem Zentralgericht des Heeres, Berlin-Charlottenburg 5, Witzlebenstr. 4-10

Ihr Aktenzeichen : St.L.94/43

Als im August des vorigen Jahres die Nachricht von der Verhaftung meines jüngsten Bruders Matthias uns erreichte, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Dass gerade Matthias, der nie vorher mit dem Gericht zu tun hatte, im Gefängnis sein sollte, wollte ich einfach nicht glauben. Inzwischen haben wir Furchtbares mit ihm erleben u. erleiden müssen, selbst das Allerschlimmste blieb uns nicht erspart. Ich bin seine älteste Schwester und stehe hier an Stelle unserer alten Mutter, die, obschon wir ihr die Tatsache des Todesurteils unterschlagen haben und in 5 Jahre Zuchthaus umgewandelt haben, gänzlich niedergebrochen ist. Seit der Verhaftung meines Bruders ist sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst, denn sosehr ihr Sohn auch gefehlt hat, sie kennt ihn nur als guten u. besten Sohn, auf den nie der Schatten einer Ehrlosigkeit fiel. Es hat mich in all den Monaten und vor allem während der Gerichtsverhandlung ungemein bedrückt, daß immer nur fremde Menschen über ihn gehört wurden, die ihn doch erst seit ein paar Jahren kennen u. die niemals den wahren Kern in ihm so erfassen konnten wie wir, seine nächsten Angehörigen, die ihn schon von frühester Jugend an kennen.

Ich als seine älteste Schwester habe immer sein ganzes Vertrauen besessen u. zur mir kam er schon von früh an mit seinen Sorgen und Kümmernissen. Darf ich Ihnen nun meinen Bruder schildern, wie er von Kind auf war und wie ich ihn nur kenne. Es soll keine ausgeklügelte Abhandlung werden, sondern ich werde ganz einfach mit dem Herzen schreiben.

Der Grundzug seines Wesens war stets eine ganz aussergewöhnliche Gutmütigkeit. Andern helfen können, ihnen einen Dienst zu erweisen, eine Freude zu machen, dazu war er immer zu haben und immer bereit. Seine Gutmütigkeit ging soweit, daß er sogar die Prügel, die einem von uns Geschwistern zustand oft u. oft auf sich nehmen wollte.

Er war immer ein kränklicher kleiner Kerl u. sollte nach seiner Schulzeit erst Gärtner werden, samit sich seine Gesundheit in der frischen Luft festige, aber seine Freude an den büchern war dann doch ausschlaggebend, daß er in den Buchhandel in die Lehre kam. Wir hatten alle Freude an seinem heiligen Eifer, den er entfaltete u. der ihm immer die anerkennung seiner Chefs eintrug.

Als er dann zum ersten Male von uns fortging, um in Neuwied einen selbständigen Posten anzutreten, ließ er eine große Lücke in unserer Familie zurück. So jung er damals war, so tapfer hat er sich draußen durchgeschlagen. Jeder Pfennig wurde gespart u. er war stolz und glücklich, wenn er uns bei seinen Besuchen in Trier mit einem Kleidungsstück, das er sich selbst erspart hatte, überraschen konnte.

Untergroßen Opfern gründete dann mein Vater, um meinen Bruder selbstständig zu machen, die Trierische Lehrmittelanstalt. Tag und Nacht abeitete mein Bruder nun rastlos, um das Geschäft auf die höhe zu bringen und die Schulden abzutragen, die mein Vater hatte machen müssen. Kals die Lehrmittelhandlung infolge der Zeitverhältnisse einging, wurde er Vertreter beim Globusverlag. In Wind und Wetter lief er von Tür zu Tür mit dem Globus unter dem Arm, um wenigstens etwas zu verdienen — er tat uns oft furchtbat leid, daß er sich so plagen mußte für einen so kleinen Verdienst. Aber trotzdem hatte er immer Mut und blieb ein froher unbeschwerter Mensch.

Dann kam seine große Chance. der Deutsche Verlag in Berlin. Wie war er glücklich über diese Stelle u. wir mit ihm. Nun kannte sein Arbeitseifer keine Grenzen mehr. Er konnte uns immer wieder von seinen Erfolgen u. der Anerkennung seiner Chefa berichten. Ich hatte in dieser Zeit öfter Gelegenheit ihn zu begleiten, wenn er die hiesige Gegend bearbeitete. Von Buchhandlung zu Buchhandlung ging er in den verschiedenen Ortschaften u. wir mußten oft stundenlang auf im agen auf ihn ihn warten

Und immer, wenn er bei uns zu Hause war, war er gutgelaunt u. froh, spielte mit meinen Kindern, die ihn noch heute vergöttern und denen er nicht nur durch die sinnvollen kleinen Geschenke, sondern in der Hauptsache durch sein herzliches frohes Wesen ans Herz gewachsen ist. Oft u. oft sagte ich zu meinem Mann nach einem Besuch meines Bruders: "Er ist immer noch, als wenn er 12 Jahre alt wäre".

Selbst in den letzten Jahren habe ich kaum eine wesentliche Veränderung bei ihm bemerkt. Wohl kam er mir abgehetzter u. nervöser vor als früher, aber ich schob das wohl mit Recht seiner enormen Arbeit zu, von der er mir erzählte, und woh ich so recht die Freude bei ihm sah, jetzt immer im Großen wirken zu können. Er sprach auch von größeren Verdiensten, aber ich glaubte ihm das einfach nicht, weil er immer noch so schlicht war u. u. ich ihm das Geldraffen garnicht zutraute.

Dagegen verblüfften mich die zahlreichen Anerkennungsschreiben von hohen und höchsten Stellen u. die riesigen Aufgaben mit denen er betraut wurde. Ich sagte öfter zu meinem Mann: "Kann er das denn?" Mein Mann, der selbst Dipl.kaufmann ist, meinte dann immer: "Er ist ein äusserst tüchtiger u. fleißiger Kaufmann".

In den letzten 2 Jahren wurden seine Besuche seltener., er schreib fast nur mehr im Telegrammstil u. klagte über zu große Arbeitsbelastung. Wenn er dann bei unserer Mutter seinen Besuch ansagte, schreib er zu gleicher Zeit, daß er sich freue, sicher wieder einmal satt essen zu können. Die Mutter sparte sich dann tagelang die Speisen ab, um ihm etwas hinstellen zu können u. dann wurde er hinterher regelmäßig magenkrank von dem wenigen. Und dann hören wir im Gegensatz dazu, daß in den Verhandlungen Lebensmittelschiebungen zu Tage kamen. Wie soll man das nur in Einklang zueinander bringen? Ich kann mir nur denken, daß er das allerwenigste für sich verbraucht hat. Ich weiß nur ganz wenig von Beschuldigungen, die gegen meinen Bruder erhoben wurden, darunter auch diejenige, daß er sich der Wehrmacht entzogen habe. Zu mir sagte er bei seinen Besuchen in den letzten Jahren immer wieder: Das nächste Mal werde ich wohl als Soldat zu Euch kommen, wenn sie mich rufen, gehe ich, denn was andere Können, kann ich auch

Ich bin überzeugt davon, wenn er sich der Verwerflichkeit seiner Handlungen bewußt gewesen wäre, er hätte mich und meinen Mann, zu dem er immer großes Vertrauen hatte u. mit dem ihn eine gute freundschaft verband, einmal um Rat gefragt, um aus diesen wirrnissen herauszukommen. Ich, in meinem einfachen Sinnen und Denken kann ja niemals erfassen, was ihn, der immer so ehrbar, fliessig und rechtschaffen war, auf diese Bahn gebracht hat, daß er nun als ein zum Tode Verurteilter gefesselt in seiner Zelle sitzt. Ich kann nur immer wieder sagen: der Kern in meinem Bruder ist gut — er ist kein Verbrecher!

Es wurde meinem älteren Bruder in Berlin in dieser Zeit einmal gesagt: "Ihr Bruder ist ein Genie". Nein, er ist nur ein einfacher kleiner Kerl, der sich nie durch besonderen Geist hervortat, sondern rastlos seine Arbeit tat u. froh war, wenn er Erfolg hatte.

Ich habe mir natürlich in dieser Zeit oft und oft Gedanken darüber gemacht wie es nur kommen konnte, daß mein Bruder in diese furchtbare Lage gekommen ist u. ich komme immer wieder zu dem Ergebnis, seine Gutmütigkeit, sein einfaches, harmloses u. leichtgläugiges Wesen wurde von Menschen ausgenutzt, die geistig hoc über ihm standen u. die ihn als willigen Spielball für ihre Handlungen einspannes konnten.

Wenn ich dem Gericht jetzt noch sage, wie sehr wir unter der furchtbaren Lage meines Bruders leiden, wie unser ganzes Fühlen und Denken nur von seinem Schicksal ausgefüllt u. wie alles andere Leid dieser schweren Zeit vor dem Leid um meinen Bruder in Nichts zerfällt, dann möchte ich Sie mit aufgehobenen Händen anflehen: schenken Sie meinem Bruder das Leben, damit er wieder zeigen kann, daß der wahre Kern, der in ihm steckt, ein guter ist.


Ende